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Mathematische Handschriften des Mittelalters

Mathematische Handschriften des Mittelalters


Menso Folkerts: "Mathematische Handschriften des Mittelalters", in: Einsichten. Forschung an der Ludwig-Maximilians-Universität München 1 (1996), 28-31)

In den letzten Jahrzehnten hat sich in der Einschätzung der wissenschaftlichen Leistungen des Mittelalters ein bedeutender Wandel vollzogen. Sah man früher darin ein "dunkles Zeitalter", so hat man inzwischen erkannt, dass das Mittelalter zum einen das antike Erbe bewahrte, aber auch weiterentwickelte, zum anderen Vorbild und Wegbereiter für moderne Vorstellungen war. Im ersten Fall geht es vor allem um die Überlieferungswege und -weisen der griechischen und (in geringerem Umfang) der indischen Mathematik an das lateinische Mittelalter. Die griechische Mathematik ist nur zu einem kleinen Teil über die Römer und die Klöster tradiert worden; viel wichtiger waren die Übersetzungen und Bearbeitungen griechischer Texte durch die Araber. Diese Werke wiederum wurden vor allem im 12. Jahrhundert zum Teil ins Lateinische übertragen und dadurch dem Abendland zugänglich. Die Araber waren auch an der Tradierung mathematischer Aufgaben und Methoden östlicher Völker (Inder, Chinesen) beteiligt.

Die mittelalterliche Mathematik hat aber eben nicht nur übernommenes Wissen weitergegeben, sondern sie ist in mancher Hinsicht auch Vorbild und Wegbereiter für moderne Vorstellungen. So birgt die Lehre von den Formlatituden, die in Paris und Oxford im 13./14. Jahrhundert entstand, die Idee der funktionalen Abhängigkeit in sich und hat zumindest indirekt die Entwicklung des Funktionsbegriffs im 17. Jahrhundert beeinflußt; das Rechnen mit unendlichen Reihen, das in demselben Zusammenhang aufkam, wurde ebenfalls im 17. Jahrhundert in Verbindung mit der Infinitesimalrechnung weiter ausgebaut; scholastische Ideen, z.B. das Studium von Bewegungsabläufen, beeinflußten die Arbeiten Galileis und anderer Naturwissenschaftler in bezug auf gleichmäßig beschleunigte Bewegung.

Zudem liefert die Mathematik des Mittelalters wichtige Beispiele für die Interdependenz zwischen Mathematik und anderen Wissenschaften. So haben naturphilosophische Fragestellungen (z.B. nach der Bewegung von Körpern), die insbesondere durch das Studium der Schriften des Aristoteles entstanden, die Entwicklung der Mathematik (z.B. die Proportionenlehre) beeinflußt, während andrerseits mathematische Probleme, vor allem im Zusammenhang mit Euklids Elementen, Anlaß zu neuen Untersuchungen in der Philosophie gaben; so führte etwa die durch Euklid angeregte Diskussion über die Größe des "Kontingenzwinkels" (zwischen Kreisbogen und -tangente) zu Überlegungen über das Kontinuum, die Stetigkeit und das Unendliche. Der Aufschwung in der Astronomie im 15. und 16. Jahrhundert ist eng mit dem Ausbau bestimmter mathematischer Teilgebiete (Trigonometrie, Goniometrie) verbunden. Auch die Bemühungen um einen neuen Kalender, die Konstruktion mechanischer Uhren und überhaupt die Entwicklung der Technik stehen im Zusammenhang mit der Mathematik dieser Zeit.

Die Mathematik hat im Mittelalter wichtige Veränderungen erfahren, jedoch kennt man die Gründe dafür noch nicht ausreichend. Ohne Zweifel spielen sowohl wissenschaftsexterne wie -interne Faktoren eine Rolle. Die Besonderheit der Forschung in München besteht darin, daß zuerst der Schwerpunkt auf der Untersuchung der innermathematischen Quellen liegt.

Es mag erstaunen, daß die für die Mathematik des Mittelalters wichtigen Quellen bisher noch nicht vollständig erfaßt oder gar analysiert sind: Obwohl seit Ende des 19. Jahrhunderts intensiv mathematikhistorische Forschung betrieben wird und sich seit 1945 zunächst Wissenschaftshistoriker der USA und der ehemaligen UdSSR, später auch aus europäischen Ländern, verstärkt mit der Erforschung der mittelalterlichen Mathematik beschäftigt haben, war vor 20 Jahren trotz zahlreicher punktueller Fortschritte unsere Kenntnis der mittelalterlichen Mathematik des Abendlandes als Ganzes noch nicht wesentlich über den Wissensstand von etwa 1920 hinausgelangt.

Um diese Lücke zu füllen, habe ich (zunächst an der Universität Oldenburg; seit 1980 am hiesigen Institut für Geschichte der Naturwissenschaften) im Jahre 1977 bei der Stiftung Volkswagenwerk das Projekt "Materialien zur Geschichte der europäischen Mathematik in Mittelalter und Renaissance" beantragt. Es hatte das Ziel, in internationaler Zusammenarbeit möglichst alle Handschriften mathematischen Inhalts in westlichen Sprachen zu erfassen, soweit sie nicht später als im 16. Jahrhundert geschrieben wurden. Zu den "westlichen Sprachen" zählen außer dem Lateinischen, das im Früh- und Hochmittelalter praktisch die einzige Sprache war, in der wissenschaftliche Texte aufgezeichnet wurden, auch die westeuropäischen Nationalsprachen, die im Spätmittelalter an Bedeutung gewannen (im Fall der Mathematik neben Italienisch, Französisch, Deutsch, Englisch und Spanisch auch Katalanisch, Proven‡alisch und Isländisch). Um die Fülle des Materials zu begrenzen, wurde der Begriff "Mathematik" zunächst relativ eng gefaßt; ausgeschlossen wurden u.a. astronomische Handschriften. Dieses Projekt wurde von der VW-Stiftung von 1977 bis 1984 mit Mitteln in Höhe von 633.000 DM unterstützt.

Die Arbeit in diesem Projekt bestand zunächst darin, die relevanten mathematischen Texte zu ermitteln. Größere Vorarbeiten dazu gab es praktisch nicht. Der allergrößte Teil mathematischer Texte befindet sich in Handschriften; relativ wenige Texte wurden im 15. Jahrhundert gedruckt. Es gibt heute in weltweit über 2000 Bibliotheken westliche mittelalterliche Handschriften. Nur für einen Teil dieser Bibliotheken gibt es brauchbare gedruckte Handschriftenkataloge; bei vielen bedeutenden Sammlungen ist dies jedoch nicht der Fall (z.B. Paris, Wien, BSB München, Berlin, Florenz, Vatikan). Daher wurden - neben der Durchsicht der gedruckten Kataloge - viele Bibliotheksreisen unternommen, um auch die ungedruckten Findmittel zu konsultieren. Darüber hinaus lieferte die systematische Durchsicht der wissenschaftshistorischen Literatur weitere und oft genauere Informationen. Insgesamt wurden über 1300 Katalogbände bzw. sonstige Arbeiten über Handschriftensammlungen mit mehr als einer halben Million Handschriftenbeschreibungen durchgesehen. Dabei ergab es sich, daß nur etwa 1% der mittelalterlichen Handschriften mathematische Texte enthalten. Trotzdem belief sich ihre Absolutzahl auf etwa 3000. Diese Prüfung förderte neben allgemein bekannten Handschriften auch eine große Anzahl von mathematischen Texten in Handschriften zutage, die bisher in der Wissenschaftsgeschichte nicht erwähnt werden.

Die von der VW-Stiftung großzügig gewährten Mittel ermöglichten es, von allen relevanten Handschriften Mikrofilme anzufertigen und dadurch ein zentrales Archiv aufzubauen, das praktisch alle mittelalterliche Handschriften in westlichen Sprachen, die mathematische Texte enthalten, in Form von Mikrofilmen oder Papierkopien umfaßt. Diese Sammlung konnte in den Folgejahren weiter ausgebaut werden und umfaßt nun Kopien von mehr als 5000 Handschriften aus etwa 350 Bibliotheken; diese enthalten nicht nur mathematische Texte im engeren Sinn, sondern auch eine Vielzahl astronomischer und anderer naturwissenschaftlicher Traktate. Neben den ursprünglich gesammelten Filmen westlicher Handschriften sind jetzt auch mehrere hundert Mikrofilme von arabischen Handschriften vorhanden. Diese Sammlung ist einmalig in der Welt.

In den Jahren 1985 bis 1989 wurde im Rahmen eines von der DFG finanzierten Projekts eine Datenbank aufgebaut, in die gedruckte und ungedruckte Beschreibungen mathematisch-naturwissenschaftlicher Handschriften aufgenommen wurden. Die Grundlage bildeten die Informationen über Handschriften, die bei der Ermittlung mathematischer Texte gesammelt worden waren, jedoch sind darüber hinaus auch Beschreibungen jüngerer Handschriften berücksichtigt worden bis hin zu Vorlesungsmitschriften aus dem 19. und 20. Jahrhundert. Da die Informationen in den Katalogen nicht standardisiert sind, mußte ein spezielles Codierungssystem entwickelt werden, das der Struktur der Handschriften und den wissenschaftshistorischen Erfordernissen Rechnung trägt. Besonders wichtig (neben dem Feld für den Autor des jeweiligen Textes) sind die Felder, die die Textanfänge (Incipits) bezeichnen, da es - anders als bei gedruckten Büchern - im Mittelalter i.a. keine genormten Titel gab, so daß verschiedene Abschriften desselben Textes sich am einfachsten über das (meist identische) Incipit ermitteln lassen. Die Münchener Datenbank (International Computer Catalog of Medieval Scientific Manuscripts: ICCMSM) wurde in Kooperation mit einer im Aufbau befindlichen ähnlichen Datenbank in den USA bzw. Kanada (Benjamin Data Bank) konzipiert. Sie enthält derzeit Informationen über mehr als 10.000 Handschriften.

Die Datenbank ermöglicht selbstverständlich die Recherche nach allen codierten Angaben. Hierzu gehören insbesondere die Felder für Autoren, Titel, Incipits und Explicits. In einer späteren Phase sollen eine Reihe von Rechercheergebnissen von allgemeinem Interesse (wie Namens- und Werkregister und Handschriftenverzeichnisse zu speziellen Gegenständen) in Form von gedruckten Katalogen aufgearbeitet werden.

Eine der wichtigsten Recherchemöglichkeiten ist die Ermittlung verschiedener Abschriften desselben Textes. Diese Grundvoraussetzung für jede kritische Edition einer bestimmten Schrift ist über das Incipit in Verbindung mit Autor und Titel leicht möglich. Wenn in der Datenbank die verschiedenen Überlieferungsträger eines Textes gefunden sind, können mit Hilfe der im Mikrofilmarchiv vorhandenen Kopien die Angaben in den Katalogen überprüft und die Kollation durchgeführt werden, so daß zeitaufwendige Reisen in die Bibliotheken, in denen sich die Handschriften befinden, im allgemeinen überflüssig sind.

Zu den wesentlichen Ergebnissen der Handschriftenerfassung im Rahmen des Datenbankprojekts gehört das Bekanntwerden einer Reihe bisher unbekannter mathematischer Texte oder neuer Abschriften und die Fehlerkorrektur von vorhandenen Handschriftenbeschreibungen. Einige neue Ergebnisse und von ihnen ausgehende Studien, die am Institut für Geschichte der Naturwissenschaften durchgeführt wurden bzw. werden, sollen hier erwähnt werden:

  • In Handschriften in Berlin und Breslau konnten zwei bisher unbekannte Übersetzungen der verbreitetsten lateinischen Schrift jener Zeit, des Algorismus von Johannes de Sacrobosco, ins Hoch- bzw. Niederdeutsche nachgewiesen werden. Sie stammen aus der 1. Hälfte des 15. Jahrhunderts. Zusammen mit einer weiteren schon bekannten deutschen Übersetzung dieser Schrift gehören sie zu den frühesten mathematischen Werken in deutscher Sprache. Eine Dissertation (Gerhard Brey) über diese Übersetzungen mit einem Verzeichnis der deutschsprachigen mathematischen Texte aus dem Mittelalter steht kurz vor dem Abschluß.
  • Eine zentrale Stellung in der Wissenschaft des Mittelalters nehmen die verschiedenen Übersetzungen und Bearbeitungen von Euklids Elementen ein. Mit Hilfe der Datenbank und des Mikrofilmarchivs konnte Ordnung in die verwirrende Vielfalt der Texte gebracht werden[1]. Dabei wurden zahlreiche bisher unbekannte Handschriften zutage gefördert, u.a. von einem anonymen Kommentar, der der Euklidbearbeitung, die Albertus Magnus zugeschrieben wird, vorgelegen haben muß. Eine Reihe von bisher nicht bekannten Euklidhandschriften wurde im Rahmen des Universitätsunterrichts in der Fakultät der artes liberales im 14. und 15. Jahrhundert benutzt.
  • Der wichtigste lateinische Euklidtext vor dem Ende des 13. Jahrhunderts war die sogenannte "Version II", die bislang Adelard von Bath zugeschrieben wurde. Die Edition dieser Fassung wurde gemeinsam mit Dr. H. L. L. Busard (Venlo) unter Berücksichtigung aller 63 erhaltener Handschriften erstellt[2].
  • Der verbreitetste arithmetische Text im frühen Mittelalter war die Arithmetik des Boethius, die in der neupythagoreischen Tradition steht. Im Gegensatz zu seinem Musik-Traktat weiß man von der Arithmetik noch nicht einmal, wie viele Handschriften aus der Karolingerzeit erhalten sind. Unter Benutzung der Datenbank konnten insgesamt etwa 250 Handschriften ermittelt werden. Es ist geplant, eine auf Autopsie der Mikrofilme beruhende Liste dieser Handschriften zu erstellen.
  • Auf der Arithmetik des Boethius beruht eine zahlentheoretische Schrift aus der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts, die in den Handschriften manchmal Thomas Bradwardine und manchmal Simon Bredon zugeschrieben ist. Mit Hilfe von Datenbank und Filmarchiv konnte festgestellt werden, daß die Schriften der beiden Autoren in Wirklichkeit identisch sind und mit einem Druck aus dem Jahre 1495 übereinstimmen. Es gibt nicht nur die drei bisher bekannten Handschriften dieses Textes, sondern 15. Eine kritische Edition dieser wichtigen Schrift ist in Vorbereitung.
  • Zu den verbreitetsten Brettspielen im Mittelalter gehörte die sogenannte "Rithmimachie", die im 11. Jahrhundert entstand und zeitweise beliebter als das Schachspiel war. Mit Hilfe der Datenbank konnten über 20 bisher unbekannte Handschriften zu verschiedenen Texten gefunden werden. Die Ergebnisse wurden dem Konstanzer Historiker Arno Borst für seine Ausgabe der frühen Texte zur Rithmimachie[3] zur Verfügung gestellt. Inzwischen habe ich eine von Werinher vom Tegernsee stammende Fassung aus der 2. Hälfte des 12. Jahrhunderts ediert, die eine zentrale Stellung in der Geschichte des Spiels einnimmt[4]. Die Ausgabe eines italienischen Gesprächs über dieses Spiel, die von Benedetto Varchi stammt (1539), ist in Arbeit.
  • Die älteste Schrift über das Rechnen mit indisch-arabischen Ziffern, die al-Hwarizmi um 820 auf arabisch schrieb, ist nur in einer lateinischen Fassung erhalten. Bislang war nur eine unvollständige Handschrift bekannt. Eine zweite, vollständige, habe ich gefunden[5]; eine Edition ist in Arbeit.
  • Erstaunlicherweise gibt es bisher keine umfassendere Zusammenstellung der Quellen zur Mathematik im westlichen Mittelalter; vielmehr muß man oft noch immer zu den "Vorlesungen über Geschichte der Mathematik" zurückgreifen, die Moritz Cantor um 1900 verfaßte, und die neueren Forschungsergebnisse mühsam aus verschiedenen Publikationsorganen zusammensuchen. Aus diesem Grund arbeite ich gemeinsam mit Dr. Busard an einem Handbuch, das in chronologischer Anordnung über die Schriften der einzelnen Autoren informieren soll. Dieses Buch wird bei jedem Verfasser auch die Handschriften erwähnen, die das jeweilige Werk überliefern. Die Arbeit an dem Handbuch ist weit vorangeschritten.

Die künftige Nutzung der Datenbank und des Mikrofilmarchivs kann nicht nur der wissenschaftshistorischen Forschung, sondern auch der Klassischen Philologie, der Mediaevistik, den Renaissance-Studien und anderen geisteswissenschaftlichen Disziplinen neue Impulse vermitteln. Es wäre zu wünschen, dass diese am Lehrstuhl für Geschichte der Naturwissenschaften in München vorhandenen Möglichkeiten in Zukunft noch stärker als bisher genutzt werden.

Anmerkungen:

[1] Folkerts: Euclid in Medieval Europe. Winnipeg 1989
[2] H. L. L. Busard, M. Folkerts: Robert of Chester's (?) Redaction of Euclid's Elements: the so-called Adelard II Version. Basel / Boston / Berlin 1992
[3] Das mittelalterliche Zahlenkampfspiel. Heidelberg 1986
[4] M. Folkerts: "Die 'Rithmachia' des Werinher von Tegernsee, in: Vestigia Mathematica. Studies in medieval and early modern mathematics in honour of H. L. L. Busard, Amsterdam / Atlanta 1993, S. 107-142
[5] M. Folkerts: "Eine neue Handschrift von al-Hwarizmis Arithmetik", in: Cosmographica et geographica. Festschrift für Heribert M. Nobis zum 70. Geburtstag, hg. v. B. Fritscher und G. Brey. 1. Halbband. München 1994, S. 181-193

Literatur:
M. Folkerts: "Materialien zur Geschichte der europäischen Mathematik in Mittelalter und Renaissance. Ein Projekt der Universitäten Oldenburg und München", in: Jahrbuch der historischen Forschung in der Bundesrepublik Deutschland, Berichtsjahr 1984, München usw. 1985, 36-41

M. Folkerts, A. Kühne, M. Segre: "Der Aufbau einer Datenbank für die Geschichte der europäischen Mathematik im Mittelalter und der Renaissance", in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 11 (1988) 256-260

M. Folkerts, A. Kühne (Hrsg.): The Use of Computers in Cataloging Medieval and Renaissance Manuscripts. München 1990 (Algorismus, Heft 4)

Autor: Prof. Dr. Menso Folkerts

 

 

 

 


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